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Wende-Kunst in Greizer Stadtkirche St. Marien

Wende-Kunst in Greizer Stadtkirche St. Marien

Die beiden Ausnahmemusiker Frieder Gauer (Querflöte) und Samuel T. Klemke.

Musik, Poesie und Prosa vor und nach dem Mauerfall – dargeboten von Frieder Gauer (Flöte/Rezitation) und Samuel T. Klemke
GREIZ. Verschiedene Stationen der DDR-Geschichte abzuschreiten nannte Pfarrer Riedel als Anspruch der Sonntagabendveranstaltung in der Stadtkirche „St. Marien“. Einladende waren zudem der Erfurter Frieder Gauer (Flöte, Rezitation) und Samuel T. Klemke (Gitarre) aus Weimar. Nachdem am Vorabend des geschichtsträchtigen 9. November diese Veranstaltung bereits im Erfurter Rathausfestsaal für große Beachtung sorgte, war Greiz die zweite Station, die sich mit Poesie, Prosa und Musik der Zeit vor dem Mauerfall widmete. Doch es sollte keine übliche Gedenkveranstaltung werden, sondern die künstlerische Sichtweise in den Fokus rücken. Frieder Gauer, der von Michael Riedel gezielte Fragen gestellt bekam, führte durch viele Kapitel der offenen und verschlüsselten Widerstandsgeschichte und ging vor allem auf die Rolle der Künstler in der ehemaligen DDR ein. Dabei trat der ehemalige Soloflötist im Philharmonischen Orchester Erfurt zugleich als kompetenter Zeitzeuge und Dialogpartner in Erscheinung. Ausgehend von der Tatsache, dass bereits Sechsjährigen „Feindbilder eingeteufelt“ wurden, sei die Jugend zu „Lügnern und Heuchlern“ erzogen worden, was er an Günter Ullmanns Gedicht „Staatsbürgerkunde“ festmachte: „Für Dummheit und Lüge gibt es die besten Noten – genauso wie im Leben.“ Auch Gedichte von Reiner Kunze wurden von Frieder Gauer rezititert, so „Appell“ und „Hymnus auf eine Frau beim Verhör“. Ein „einschneidendes Erlebnis“ in Gauers Leben sei der Mauerbau im Jahr 1961 gewesen, der Deutschlands Teilung zementierte. „Hoffnungsschimmer“ setzten etwa der Prager Frühling im Jahr 1968, der Besuch von Bundeskanzler Willy Brandt 1970 in Erfurt oder die „Schlussakte von Helsinki“ im Jahr 1975. Wie aber wurde in der DDR mit den Künstlern umgegangen? „Es gab nur nützliche oder schädliche Kunst“, wie Frieder Gauer ausführte. Oft wurden Künstler zur „Dienstmagd degradiert“ oder totgeschwiegen. Als „Paukenschläge“ bezeichnete er die öffentliche Verbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz im Jahr 1976 oder die Ausbürgerung von Wolf Biermann, die wahre „Gruppenproteste“ hervorriefen. Doch „sich einmauern ist der Tod“ zitierte Frieder Gauer den Dichter Theodor Fontane. In den 1970er und 80er Jahren seien die Kirchen zum Refugium geworden, es bildete sich mit „Schwerter zu Pflugscharen“ die offene – und Umweltarbeit heraus. Als die „Ära Gorbatschow“ mit „Glasnost“ und „Perestrojka“ anbrach, habe man aufgeatmet. Nun hätten auch die Künstler den „aufrechten Gang“ geübt, so Frieder Gauer. Zur friedlichen Revolution, die er noch heute als „Wunder“ bezeichnet, hätten Menschen mit Kerzen „martialisch bewaffneten Kräften“ gegenüberstanden und keiner verlor die Nerven. Dass man im heißen Wendeherbst einen „besseren Sozialismus“ erkämpfen wollte, ließ der Musiker nicht unerwähnt. Doch der Ruf nach „Deutschland einig Vaterland“ sei größer gewesen. Positiv schätzt Gauer, zwanzig Jahre resümierend, das Vorhandensein demokratischer Rechte und Freiheiten ein; negativ, dass Geld zur „Götze“ wurde und die Solidarität unter den Menschen oft auf der Strecke bliebe. Was bleibt nun zu tun? – so die abschließende Frag von Pfarrer Riedel. Frieder Gauer unterstrich die große Verantwortung, die Deutschland in der Welt besitze: „Wir haben die Erde gekränkt, dabei ist sie uns nur geliehen.“ Es müsste ein Ruck durch die Welt gehen, so der Wunsch des Erfurtes. „Armut ist ein Unding; auch kann der Turbokapitalismus nicht alles sein.“
Wunderbar, dass an diesem Abend auch die Musik nicht zu kurz kam. Gemeinsam mit Samuel T. Klemke aus Weimar (Gitarre) brachte Frieder Gauer (Flöte) – übrigens vor vielen Jahren Stavenhagenpreisträger – einige Stücke zu Gehör, die bestens mit dem Gehörten korrespondierten. So erklangen etwa drei Miniaturen für Flöte und Gitarre „Trennung und Gemeinschaft“ von Reinhard Lippert oder Tilo Medecks „Ohne Zweispalt“. Virtuos brachte Gitarrist Samuel T. Klemke die Suite „Perestrojka“ von Anatoli Olschanski zu Gehör. Eine beeindruckende Veranstaltung, die mit Sicherheit mehr Gäste verdient hätte.

Antje-Gesine Marsch @25.11.2014

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