Vor dreißig Jahren verließ Reiner Kunze die DDR
GREIZ. Großer Bahnhof am Freitagabend in der Greizer Stadtkirche „St.Marien“. Mit der Veranstaltung „Gegen das Vergessen“ wollten die Greizer und geladene prominente Gäste des dreißigsten Jahrestages gedenken, dass der Schriftsteller Reiner Kunze die Stadt, in der er fünfzehn Jahr lebte und arbeitete, gen Westen verließ.
„Der heutige Tag ist ein schöner Tag, auch wenn der Anlass kein erfreulicher ist“, eröffnete der ehemalige Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Dr. Joachim Gauck, am Freitagabend die Festveranstaltung „Gegen das Vergessen – 30 Jahre Ausbürgerung Reiner Kunze“ die die Greizer Stadtbibliothek organisiert und aufgrund des Besucheransturms kurzerhand in die Stadtkirche „St.Marien“ verlegt hatte.
Auf den Tag genau vor dreißig Jahren hatte der im Jahr 1933 in Oelsnitz/Vogtland geborenene Bergarbeitersohn, nur knapp eine Woche nach Stellen des Ausreiseantrages, die Stadt Greiz, in der er fünfzehn Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte, verlassen müssen. „Es gab damals für uns nur zwei Möglichkeiten“, so Kunze, der die Zeit vor drei Jahrzehnten in Gedanken noch einmal Revue passieren ließ.
Aus „sicherer Quelle“, wie Kunze beteuerte, hatten er und seine Frau Elisabeth, die damals als Kieferorthopädin in Greiz arbeitete, erfahren, dass an dem spätestens nach dem Erscheinen der Bücher „Brief mit blauem Siegel“ und „Die wunderbaren Jahre“ zum Staatsfeind avancierten Schriftsteller ein „Exempel statuiert werden sollte“. Acht bis zwölf Jahre Haft hätte es bei einem gegen ihn angestrengten Prozess in der Verurteilung geben können, versicherte Kunze.
Eine zweite, ebenfalls sichere Quelle, ließ verlautbaren, dass man nach Stellen eines Ausreiseantrages und einem persönlichen Schreiben an den damaligen DDR-Chef Honecker jenen Prozess vermeiden und sofort die Republik verlassen könne. „Nie, wirklich nie, hatten wir jemals den Gedanken gehabt , der DDR den Rücken zu kehren“, erinnerte sich Kunze in bewegenden Worten. Doch die Schlinge um den Hals der Kunzes wurde von Tag zu Tag enger. Neben dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR, was einem Berufsverbot gleichkam, hatte es unter anderem an der damaligen Erweiterten Oberschule Greiz, an der Kunzes Tochter lernte, Protestaktionen gegen das Erscheinen des Buches „Die wunderbaren Jahre“ gegeben.
„Wir hatten einen Grundkonflikt, aus dem Tausend anderer Konflikte erwuchsen“, so Kunze. „Dann müssen wir eben gehen“, konstatierte das Ehepaar, das durch Diffamierung und Rufmord körperlich und seelisch geschwächt, das thüringische Greiz gen Westen verließ. Wie spontan diese Entscheidung fiel, zeigt sich beispielsweise in Kunzes Absagen eines für ihn dringenden Operationstermines in Plauen.
„Die Solidarität unserer Freunde und Bekannten war damals riesig“, so Reiner Kunze, der sich lächelnd an Dutzende von Koffern erinnert, die plötzlich in seiner Irchwitzer Wohnung standen.
„Es musste ja alles ganz schnell gehen. Zum Beispiel sollte jedes Buch, das wir mitnehmen wollten, akribisch genau und in vierfacher Ausführung erfasst werden“, so der 74-Jährige, der seit seiner Ausreise im bayrischen Erlau, bei Passau, lebt und arbeitet.
Nach der politischen Wende kam der im Jahr 1995 zum Ehrenbürger der Stadt Greiz ernannte Schriftsteller wieder einige Male nach Greiz zurück.
Antje-Gesine Marsch @12.04.2007
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.