In Schleiz begann der Siegeszug
Es war das letzte Juli-Wochenende im Jahr 1977. Drei Wochen vorher hatte Heiner Lindner auf dem Sachsenring das Potential eines neu entwickelten ostdeutschen Formel-Rennwagens mit einem Start-Ziel-Sieg im strömenden Regen aufblitzen lassen. Nun standen hier in Schleiz ganze sechs solche nagelneue Rennwagen mit der Bezeichnung „SRG MT77“ im Fahrerlager. Neben Heiner Lindner hatten auch Heinz Melkus und seine Söhne Ulli und Peter je einen dieser neuen Rennwagen mitgebracht.
Auch der Sportwagenmeister Klaus Günther und das damals noch „unbeschriebene Blatt“ Bernd Kasper waren mit einem taufrischen MT77 angereist.
Am Samstag debütierten dann Peter Melkus und Bernd Kasper in der Leistungsklasse II. Mit einem eindeutigen Sieg und einem dritten Platz stellten sie die Leistungsfähigkeit des neuen Rennwagens eindrucksvoll unter Beweis. Im anschließenden DDR-Meisterschaftslauf überquerte Heiner Lindner als Zweiter die Ziellinie, Heinz Melkus fuhr auf Platz 4 und Klaus Günther landete auf dem fünften Platz. Einzig Ulli Melkus fiel aufgrund eines defekten Ölfilters aus. Dafür schlug der Dresdner dann am Sonntag zu: Er hatte seinen nagelneuen MT wieder flott und verblies damit die gesamte osteuropäische Rennelite im internationalen Pokalrennen.
Mit fast einer halben Minute Vorsprung überquerte er die Ziellinie mit neuem Runden- und Streckenrekord. Heiner Lindner sah als zweitbester Deutscher auf dem fünften Platz die Zielflagge.
Der „Neue“ hatte also wie eine Bombe eingeschlagen und dessen Potential überzeugend unter Beweis gestellt. Das Auto war von Anfang an so genial, dass es für fast zehn Jahre die beste Rennwagenkonstruktion des Ostens darstellen sollte.
Es wurde nach den Unterlagen seiner Konstrukteure in fast 60 Exemplaren gebaut und auch in die CSSR und nach Ungarn verkauft. Das Gefährt mit seiner Gitterrohrkonstruktion unter der gefälligen Karosserie aus „GFP“ (Glasfaserverstärktem Polyester) war nach den damals gültigen Bauvorschriften für die Rennwagenklasse B8 bis 1.300 ccm Hubraum entwickelt worden.
In seinem Heck werkelte ein ca. 115 PS starker Vierzylinder-Viertakt-Motor des sowjetischen PKW „Shiguli“. Die Bezeichnung MT77 hatte der nur 420 kg leichte Renner aus den Anfangsbuchstaben der Nachnamen seiner geistigen Väter Ulli Melkus und Hartmut Thaßler erhalten. Die Zahl 77 bezeichnete logischerweise das Entwicklungsjahr. Umbruch im Rennwagenbau Bis 1972 fuhr man auch in der DDR Rennen der Formel III nach den von der FIA festgelegten Bauvorschriften. Viele Jahre bestimmten die meist silbernen Zigarren aus dem Hause Melkus oder SEG mit einem Wartburg-Zweitakter im Heck das ostdeutsche Renngeschehen.
Als 1970 die Hubraumgrenze dieser Rennklasse auf 1.600 ccm angehoben wurde, löste das in den ostdeutschen Rennsportkreisen einen Schock aus. Grund war das offensichtliche Nichtvorhandensein eines für Automobilrennen brauchbaren Motors. In der Not trat der ADMV die Flucht nach vorn an: Er gründete zwei Jahre später eine eigene Formelklasse bis 1.300 ccm als Klasse C9, die 1976 als Klasse B8 weiterentwickelt und von anderen sozialistischen Ländern übernommen wurde.
Als „Standardmotor“ bot sich der 1.300er Viertakter des gerade neu importierten sowjetischen PKW „Shiguli“ an. Eine Großzahl von Aktiven rüsteten ihre Melkus-, SEG- oder Eigenbau-Rennwagen auf diesen neuen Motor um. Besonders Wolfgang Küther, Wolfgang Krug und Hartmut Thaßler galten dabei als Vordenker und Vorreiter. Besonders der mit seinem HTS eingeschlagene Weg von Hartmut Thaßler schien erfolgversprechend.
Nun schrieben wir das erste B8-Jahr 1976, die Rennsaison war gerade vorbei. Ulli Melkus hatte sich den DDR-Meistertitel geholt. Das Besondere: Nicht auf einem Melkus-Renner, sondern auf einem von Hartmut Thaßler konstruierten und im Hause Melkus modifizierten HTS. Hier war man von den technischen Lösungen des Leipzigers durchaus beeindruckt und hatte dessen eingeschlagene Richtung im Rennwagenbau sehr aufmerksam verfolgt.
Schnell hatte man sie aufgenommen und war gewillt, sie aktiv weiter zu schreiben. Kernstück der nächsten Generation Rennwagen sollte ein gegenüber dem HTS noch verwindungssteiferer Rahmen werden. Insbesondere die Öffnung für den Fahrersitz und das große „Loch“ für Motor und Getriebe hatten sich bisher als Schwachpunkte erwiesen. Man experimentierte mit 1:10-Modellen aus Schweißdraht, bis man eine Konstruktion gefunden hatte, die sich gegenüber dem HTS-Modell als spürbar steifer erwies. Auch hatte man aufgrund einer VW-Studie grundsätzliche Vorstellungen über eine zeitgemäße Karosserie. Als das Ganze dann präsentationsreif war, lud Senior Heinz Melkus alle damaligen Spitzenfahrer nach Dresden ein. Dabei ging es um die Art und Weise der Realisierung des neuen Projektes.
Der etwa fünfzehnköpfigen hochkarätigen Runde offerierte der Senior als erstes seine Gedanken über die künftige Richtung des Rennwagenbaus.
Dann präsentierte er die von Mechaniker Frank Nutschan angefertigten Demonstrationsmodelle. Dieser hatte zwei Rahmen aus 1-mm-Schweißdraht nebeneinander mit der Stirnseite an einer vertikalen Platte festgeschweißt.
An deren freien Heckseite waren Hebel befestigt, mit deren Hilfe man per Hand versuchen konnte, die Rahmen zu „verdrillen“. Ein Rahmen entsprach der Konstruktion des HTS von 1976, der zweite war säuberlich mit Stoff umwickelt, damit man dessen Struktur nicht erkennen konnte. Dann wurde probiert. Die verblüfften Tester konnten tatsächlich ein deutlich steiferes Verwindungsverhalten des rätselhaften neuen Rahmens registrieren.
Bevor die Neugierde zu groß wurde, sorgte man aber für die Trennung von Spreu und Weizen:
Der Senior deutete an, diesen Rennwagen im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft herstellen zu wollen. Gleichzeitig verlangte er von den Anwesenden an Ort und Stelle eine Entscheidung, ob sie sich daran beteiligen wollen oder nicht. Nach einer kurzen Pause saßen dann nur noch sechs Personen am Tisch: Heinz Melkus mit seinen Söhnen Ulli und Peter, Hartmut Thaßler, Heiner Lindner und „der Neue“ Bernd Kasper.
Die erste „SRG“
Damit hatte Heinz Melkus seine erste sogenannte „Sozialistische Renngemeinschaft (SRG)“ gegründet, deren Kürzel sich auch anfangs in der Typbezeichnung des MT77 wiederfand. Bekanntermaßen war dem Inhaber des größten Dresdner Fahrschulbetriebes und der Produktionsstätte des ersten und einzigen in der DDR privat produzierten Sportwagens RS1000 keine übertriebene Staatstreue zu unterstellen, er hatte mit dem Sozialismus nicht viel am Hut. Aber er beherrschte dessen Vokabular und wusste, wie die meisten Oberen tickten.
Deshalb bekam seine Arbeitsgemeinschaft auch bewusst die Bezeichnung SRG, die Türen öffneten sich damit leichter.
Als „Nachzügler“ der ersten SRG kam später noch der Erfurter Klaus Günther ins Boot. Um die Aufteilung der Arbeiten wurde relativ hart gestritten. Naturgemäß hätte Hartmut Thaßler mit seiner nach heutigen Begriffen „mittelständischen Firma“ die Fahrzeuge am liebsten komplett allein gebaut. Doch dann einigte man sich auf die entsprechenden Baugruppen, wobei der Leipziger mit den Rahmen und den neuen Hauben ein großes Stück des Kuchens abbekam. Alle zu erstellenden Baugruppen wurden so verteilt, dass jeder der sieben Teilnehmer seinen Part in achtfacher Ausfertigung erledigt. So war gewährleistet, dass zum Schluss Ersatzteile für ein komplettes Fahrzeug zur Verfügung standen.
Im Januar 1977 kam Hartmut Thaßler mit der ersten fertigen Haube nach Dresden, woraufhin umgehend nachts der Windkanal der TU Dresden gebucht wurde. Mit Hilfe des DDR-bekannten Formgestalters Eberhard Voigt hatte der Leipziger gute Vorarbeit geleistet, so dass man sich dort auf Feinheiten konzentrieren konnte.
Dabei standen cW-Wert und die Eingrenzung ungewollter Verwirbelungen im Fokus. Dr. Henning Siemens, der als leitender Aerodynamiker der TU die Tests der Rennsportler begleitete, bestätigte die gelungene Form der Karosserie mit dem Satz: „Was dem Auge gefällt, gefällt auch dem Wind“. Pünktlich trafen anschließend nach und nach alle Baugruppen in der Melkus KG ein. Die Montage gegeben oder als Tauschgeschäfte weiter vermittelt.
Den Prozess hatte Ulli Melkus in der Hand. Der Senior Heinz ließ es sich aber nicht nehmen, zum Schluss ein Auge auf die fertigen Rennwagen zu werfen oder teilweise gemeinsame private Probefahrten zu organisieren.
So waren in den Folgejahren fast alle namhaften Aktiven des damaligen Formelrennsportes in irgendeiner Weise in das Projekt einbezogen. Es war ohnehin üblich, dass die meisten von ihnen die Kosten des Rennsports über die Anfertigung von Rennsportteilen oder Tuning refinanzierten. Werner Juppe, Heiner Lindner, Hartmut Thaßler und Volker Worm bauten Rahmen. Um Hartmut Thaßler scharten sich Leute, die geradezu kunstfertig mit Polyesterharz umgingen und daraus die Hauben und Verkleidungen für die Rennwagen fertigten. Die Lenkungen bauten u.a. Hans-Jürgen Vogel und Heiner Lindner. Bernd Kasper zeichnete für die Hinterachse samt Aufhängungen verantwortlich. Später entwickelte er sich zum Spezialisten für den Ventiltrieb des Lada-Motors und revidierte Motoren. Henrik Opitz und Stefan Perner spezifizierten Getriebe, Holger Galle Stoßdämpfer, Lutz Blütchen Tanks, Jürgen Meißner konstruierte und fertigte 6-Punkt-Sicherheitsgurte und, und, und… Hartmut Thaßler (91) und Heiner Lindner (82) mit ihren nagelneuen MT77.
Für die zeitgemäße Weiterentwicklung des MT77 fühlten sich Ulli Melkus und Bernd Kasper mit der jeweilig aktuellen SRG selbst verantwortlich. 1978/79 bekam der Rennwagen aus aerodynamischen Gründen eine etwas veränderte Vorderhaube, längere Seitenkästen, einen Heckflügel und ein „Langheck“ spendiert (MT77/1). Unter Federführung des erfahrenen Rennfahrers und Technikers Frieder Kramer wurde gleichzeitig die gesamte Kinematik des Fahrgestells neu konstruiert. Der Ingenieur vom VEB Sachsenring Zwickau hatte Zugang zu einem der wenigen Großrechner, die in der DDR existierten. Nach Feierabend, nachts und an Wochenenden entwickelte der findige Zwickauer passende Programme, um die Lenkgeometrie des neuen Rennwagens computergestützt zu errechnen. Hatten die Designer 1977 fast nur den Luftwiderstand im Blick, waren inzwischen dosierbare Abtriebswerte immer bedeutsamer geworden. 1984/85 wurde deshalb wiederum eine neue eckigere Vorderhaube entwickelt, mit deren Hilfe noch einmal mehr Abtrieb an der Vorderachse generiert
werden konnte. Gleichzeitig bekam der Heckflügel ein neues Profil und musste nunmehr mit zwei Seitenplatten auf der Haube befestigt werden (MT77/2).
Den enthusiastischen Designern des MT77 gelang es auch weiterhin, durch Ausnutzung von „Beziehungen“, den Windkanal der Technischen Universität in Dresden zu nutzen.
Vor allem Ulli Melkus, Bernd Kasper und Mechaniker Frank Nutschan testeten anhand von Modellen mehrfach den Strömungsverlauf am Fahrerhelm oder am Heckflügel und an weiteren Punkten der durchgehenden Karosserie. Nach und nach wurde somit die Aerodynamik weiter optimiert. Diese trug dazu bei, dass der Rennwagen in den letzten Ausbaustufen als Formel Mondial (MT77/3) Spitzengeschwindigkeiten bis zu 260 km/h erreichte.
Der MT „lebt“ Außer in den beschriebenen „offiziellen“ jährlich neu formierten Arbeitsgemeinschaften lag die Weiterentwicklung des Rennwagens außerdem in vielen weiteren Händen. Man darf sich eben keine Serienproduktion vorstellen, wie sie z.B. heute bei Dallara oder anderen Herstellern üblich ist. Die vorhandenen Rennwagen wurden in vielen Garagen und Werkstätten quer durch das Land modernisiert, nachgebaut und auf den aktuellsten Stand gebracht. Vielfach bekam die Bezeichnung dieser Rennwagen dann eine andere Jahreszahl hinter dem MT-Kürzel (MT79, MT81/1 usw.) Dabei blieb immer genug Raum für Improvisation und nicht immer spielte Geld die Hauptrolle. Die Fahrerlager – besonders das zum jährlichen Frühjahrstraining – waren gleichzeitig Umschlagplatz und Basar für Rennsportteile.
Es wurden Rahmen gegen Motor, Stoßdämpfer gegen Getrieberäder usw. getauscht.
So wurden viele Elemente aus vielen Händen zu einem Fahrzeug zusammengeführt, und es flossen damit auch viele Erfahrungen ein.
Die Anzahl und Präsenz der MT77 auf den osteuropäischen Rennstrecken stieg auf diese Weise sehr schnell – und das unter den Bedingungen der sozialistischen Mangelwirtschaft.
Schon 1978, also nur ein Jahr nach seiner Feuertaufe, lehrte der MT77 der Ost-Motorsportwelt das Fürchten. Ulli Melkus holte sich von 1978 bis 1985 fünfmal den Pokal für Frieden und Freundschaft des „Osteuropameisters“, und die DDR-Mannschaft errang auf MT77 bis 1986 ebenfalls fünfmal den dazu gehörigen Mannschaftstitel.
Schon Ende der siebziger Jahre wurden in der Leistungsklasse I fast ausschließlich MT77 gefahren. Varianten… Varianten…
Unter den geschilderten Bedingungen war natürlich klar, dass es kaum komplett identische Autos geben konnte. Die Fahrzeuge unterschieden sich vielfach schon äußerlich, vor allem durch die Heckflügelkonstruktionen. Unter den Verkleidungen waren die technischen Differenzierungen noch weit vielfältiger. Findige Lösungen lieferte immer wieder der Leipziger Heiner Lindner. Er verzichtete auf die Haube über Motor und Getriebe und stellte damit eine sehr flache MT-77-Variante auf die Rennstecken. Lutz Blütchen, Werner Juppe und Jürgen Stiebritz entwarfen Ende der 1980er Jahre sogar vollkommen eigene Karosserien für ihre MT-Rennwagen.
Auf der Motorenseite wurden mit der „Klasse E“ 1984 die Tuningmöglichkeiten erweitert.
Das gab dem MT77 einen Leistungsschub bis zu 125 PS. Motorenspezialist Bernd Kasper hatte einen bedeutenden Anteil daran.
Er modifizierte vor allem den Ventiltrieb des Vierzylinders und vervollkommnete damit das Gesamtpaket des genialen Renners. Er unterstrich dieses mit drei Meistertiteln von 1986 bis 1988. Nach Einführung der Formel „Mondial“ im Jahr 1988 bekamen einige MT77 noch einen 1600er Lada-Motor mit Doppelvergasern eingepflanzt. Damit erhöhte sich die Leistung zwar noch einmal auf bis zu 145 PS, die Blütezeit des legendären Renners konnte aber nicht verlängert werden. Die Zeit der sowjetischen „Estonia“ war im Osten angebrochen und besiegelte mit dem Fall der Mauer gleichzeitig
Was bleibt?
Den Konstrukteuren des MT77 und den vielen hellen Köpfen in der zweiten Reihe war ein toller Wurf gelungen. Den ersten sieben Rennwagen folgten in der beschriebenen Weise noch mehr als fünfzig weitere. Sie waren eine echte DDR-Entwicklung und keinem westlichen Vorbild nachempfunden. Dafür gebührt allen Beteiligten uneingeschränkter Respekt. Der Rennwagen sorgte mit seiner eigentümlichen Vita dafür, dass sich die Rennfahrergemeinde eng um diesen Wagen verschweißte. Das war neben dem Können der DDR-Aktiven auch eine der ausschlaggebenden Gründe, warum der osteuropäische Formelrennsport fast 10 Jahre von den Akteuren der DDR beherrscht wurde.
Die Tatsache, dass im vierzigsten Jahr des MT77 noch etwa dreißig (!) MT-Derivate in historischen Rennsportserien unterwegs sind – und wieder die Urbezeichnung MT77 tragen – belegt deren Kultstatus eindrucksvoll. Auch hier beim Freddy-Kottulinsky-Revival präsentieren nicht wenige heutige Besitzer diese Rennfahrzeuge mit geschwellter Brust.
Obwohl – einen echten MT77 im Originalzustand fährt keiner von ihnen. Denn davon gab es wirklich nur sieben Stück. Hartmut Thaßler – heute zuweilen Gast bei historischen Rennveranstaltungen – schaut heute ebenso stolz auf die gefällige Karosserie der legendären Renner und findet auch wieder bestätigt: „Was dem Auge gefällt – gefällt auch dem Wind“.
Text und Fotos: Hendrik Medrow